Musterprozesse sind wichtig für den Diskriminierungsschutz
Ferda Ataman, Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, über Möglichkeiten und Hindernisse für Menschen mit HIV, sich gegen Diskriminierung im Gesundheitswesen zu wehren
Wäre ein Urteil, wie das des Bezirksgerichts Wien-Döbling auch in Deutschland auf Basis des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) möglich? Ist das AGG bei Diskriminierung im Gesundheitswesen von Menschen mit HIV anwendbar?
Aus zwei Gründen wäre so eine Klage bei uns nicht möglich: Erstens gibt es in Deutschland kein Verbandsklagerecht. Eine Betroffene in Deutschland müsste also selbst klagen und das Prozess- und damit auch das Kostenrisiko ganz alleine tragen. Sie hätte dann aber noch ein zweites Problem: Medizinische Behandlungsverträge sind rechtlich eine Grauzone. Sie werden im AGG nicht klar aufgeführt. Überall dort, wo es so genannte Massengeschäfte gibt – also zum Beispiel beim Einkaufen, im Hotel, bei Mietverträgen und so weiter – da gilt das Diskriminierungsverbot. Menschen dürfen hier nicht wegen der bekannten Diskriminierungsgründe benachteiligt werden, auch nicht wegen chronischer Krankheiten, die zum Merkmal "Behinderung“ gehören. Es ist unklar, ob Behandlungsverträge nun ein solches Massengeschäft sind und damit das AGG Anwendung finden kann. Einige Jurist*innen, darunter auch das Beratungsteam der Antidiskriminierungsstelle des Bundes vertritt diese Auffassung, andere Expert*innen raten von Klagen jedoch derzeit eher ab. (LINK: https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/Standpunkte/01_Behandlungsvertraege.pdf?_) Ich werde mich bei der anstehenden Reform des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes dafür stark machen, hier nachzubessern und den Diskriminierungsschutz für Verträge aller Art konkreter zu formulieren.
Warum gibt es dazu in Deutschland bisher noch keine Rechtsprechung In Österreich ist im Behindertengleichstellungsgesetz ein Verbandsklagerecht vorgesehen. Benötigen wir Ihrer Ansicht nach etwas Vergleichbares auch für Deutschland?
Das Prozessrisiko für einzelne Kläger*innen ist im Moment einfach zu hoch. Das wäre ganz anders, wenn die Antidiskriminierungsstelle selbst oder auch Verbände klagen könnten. Die haben einen längeren Atem und kennen das Diskriminierungsrecht ganz genau. Nicht nur die Antidiskriminierungsstelle, auch ein großes zivilgesellschaftliches Bündnis aus mehr als 100 Verbänden und Initiativen will deshalb, dass es in Deutschland mehr kollektive Klagemöglichkeiten gibt. In vielen anderen EU-Ländern sind sie seit vielen Jahren Standard.
Solche Klagerechte helfen, in grundsätzlichen Fragen Klarstellungen von den Gerichten zu bekommen, gerade auch von höheren Instanzen. Solche Musterprozesse sind ganz wichtig für den Diskriminierungsschutz. Das Verbandsklagerecht hilft aber auch bei Einzelfällen. Hier gibt es die Möglichkeit der Prozessstandschaft. Das bedeutet, dass Verbände dann im Namen von Einzelnen klagen können. Das würde vielen Menschen die Angst vor einer Klage nehmen und ist deshalb sehr wichtig.
Welche Formen der Unterstützung können Menschen, die Diskriminierung erlebt haben, derzeit von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes erhalten?
Wir bieten eine kostenlose rechtliche Einschätzung zu allen Fällen von Diskriminierung an – sagen also ganz konkret, ob es sich lohnen könnte, zu klagen oder auch nicht. Manchmal sind zum Beispiel viel zu kurzen Fristen von zwei Monaten schon vorbei, um überhaupt gegen Diskriminierungen vorgehen zu können. Oder Betroffene erleben Diskriminierung in Bereichen, in denen das AGG nicht gilt, zum Beispiel in Schulen oder bei staatlichen Stellen.
Außerdem haben wir die Möglichkeit, Stellungnahmen einzufordern. Auch forschen wir zu Diskriminierung und machen Öffentlichkeitsarbeit dazu. Nur klagen, das können wir noch nicht. Das sollte sich ändern.
Die Fragen stellte Axel Schock
Mehr Informationen zur Antidiskriminierungsstelle des Bundes und deren Beratungsangebot unter www.antidiskriminierungsstelle.de