Glückssache Gesundheit? Zur Versorgung von Geflüchteten in Deutschland

Theoretisch besteht für alle Menschen in Deutschland Zugang zu gesundheitlicher Versorgung. Aber wie sieht das in der Praxis aus? Asylbewerber*innen bekommen für 36 Monate eingeschränkte Hilfe im Krankheitsfall, für Menschen ohne Papiere ist die Lage komplizierter.
Vor zehn Jahren ist Ahmed aus Pakistan nach Deutschland geflüchtet. Er ist schwul und HIV-positiv. „Aber er hatte Angst, im Asylprozess über seine Homosexualität zu reden, dabei war das sein eigentlicher Fluchtgrund“, erzählt Lothar Linzen, der bei der Berliner Aidshilfe in der Migrationsberatung arbeitet. Dort hat er Ahmed kennengelernt, dessen Asylantrag kürzlich endgültig abgelehnt wurde. Was bedeutet das für ihn – und seine Gesundheit?
Wie sieht die Lage überhaupt aus? Wie ist es um die gesundheitliche Versorgung auch auf psychotherapeutischer Ebene bestellt? Wer kann in Deutschland von welchen gesundheitlichen Leistungen profitieren? In der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage, die Abgeordneten der Gruppe Die Linke bereits im Dezember 2024 gestellt haben, heißt es dazu: „Es besteht für alle Personen unabhängig von ihrer Herkunft die Möglichkeit des Zugangs zur gesundheitlichen Versorgung“. Voraussetzung sei jedoch die Absicherung „beispielsweise über das Asylbewerberleistungsgesetz oder die Sozialhilfe“.
Das heißt konkret: Wer einen Antrag auf Asyl gestellt hält, fällt für 36 Monate unter das Asylbewerberleistungsgesetz und erhält einen eingeschränkten Zugang zu gesundheitlicher Versorgung (§§ 4 und 6 AsylbLG). Danach – oder einem positiv entschiedenen Asylantrag – wird die Person in eine gesetzliche Krankenversicherung aufgenommen. Bis Februar 2024 galt der eingeschränkte Zugang für 18 Monate, danach wurde dieser Zeitraum ausgeweitet.

Behandelt werden akute Erkrankungen und Schmerzzustände. Auch Schutzimpfungen, medizinisch gebotene Vorsorgeuntersuchungen und die Versorgung von Schwangeren fallen darunter. Und sonst? „De facto steht das nirgendwo. Es wird in den Bundesländern unterschiedlich ausgelegt. Manchmal hat man Glück und fast die gleichen Ansprüche wie jemand mit Krankenversicherung“, sagt Laila Prager, Fachbereichsleiterin Migration bei der Deutschen Aidshilfe. Und wenn man kein Glück hat? „Dann landet man in einer Kommune, wo gerade versucht wird, auf dem Rücken von besonders vulnerablen Menschen Kosten einzusparen.“ Prager kritisiert diese unsichere Lage. „Manche Krankheiten gelten vielleicht nicht als akut, können sich aber ohne Behandlung verschlimmern und chronisch werden.“
Unstrittig sei, dass die HIV-Behandlung unters Asylbewerberleistungsgesetz falle. „Das funktioniert im Großen und Ganzen gut. Mit der HIV-PReP ist es schwieriger, obwohl Prophylaxe auch wichtig ist, um eine Infektion zu verhindern.“ Schwierig sei mitunter, eine lückenlose Versorgung mit antiretroviralen Medikamenten sicherzustellen. Diese müssen regelmäßig genommen werden, damit die Ansteckungsgefahr gebannt ist. Lücken könnten beispielsweise entstehen, bis die Geflüchteten ein*e Ärzt*in gefunden haben, die*der regelmäßig Medikamente verschreiben kann.
Geflüchtete, die zur Beratung der Berliner Aidshilfe kommen, haben meist nur noch wenige HIV-Medikamente – oder gar keine mehr, erzählt Lothar Linzen. Sie hätten Anspruch auf eine HIV-therapie, die den heutigen Standards entspricht – und auch auf Medikamente zur Drogen-Substitution. In der Praxis laufe das leider nicht immer reibungslos. Gesundheitliche Leistungen für Asylbewerber*innen werden von den Ländern übernommen. In Berlin bedeutet das, dass das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) eine Krankenkasse beauftragt, Geld an die behandelnden Ärztinnen, Ärzte und Krankenhäuser auszuzahlen. Die Krankenkasse bekommt das Geld vom Land zurück. Die Anmeldung klappe aber nicht von heute auf morgen, sagt Lothar Linzen. „Es bereitet uns oft viel Kopfzerbrechen, wenn Menschen eigentlich im Asylsystem sind, aber das LAF die Krankenkasse nicht pünktlich beauftragt.“ Bis zur offiziellen Anmeldung bekommen die geflüchteten Menschen Wegweiser zu Abrechnung, mit denen sie zu Ärzt*innen gehen können. Aber diese hätten häufig Schwierigkeiten, die Honorare rückwirkend von der Krankenkasse ausgezahlt zu bekommen. Dann zum Beispiel, wenn die Behandlung schon im vorhergehenden Quartal erfolgt ist, erzählt Linzen. Zu Lücken in der Versicherung komme es auch, wenn Termine beim LAF vergessen werden – oder es einfach keine Termine gibt. „Die Auszahlungen nach Asylbewerberleistungsgesetz müssen sich Geflüchtete dort vor Ort abholen. Wenn das nicht passiert, fallen sie sofort aus dem System und bekommen auch keine Medis mehr.“
Auch problematisch sei: Wenn man krank wird, bevor man überhaupt einen Asylantrag gestellt hat. Dann können Krankenhäuser verlangen, dass Geflüchtete in Vorleistung gehen und sich das Geld später von den Sozialämtern zurückzuholen. „So landen sie direkt in der Schuldenfalle. Das ist eine Form von Diskriminierung, die vom System nicht angedacht ist, aber die de facto existiert“, sagt Laila Prager. Weitere Schwierigkeiten seien sprachliche Hürden und Unsicherheiten, was die rechtliche Situation angeht. „Manche glauben, dass man mit HIV schlechtere Chancen hat, einen Asylantrag durchzubekommen. Man muss im Blick behalten, dass Stress und Ängste, die aus der Flucht und der Gesamtsituation der Geflüchteten heraus entstehen, dazu führen, dass Menschen nicht wirklich sagen, was sie eigentlich brauchen.“
Für viele würde auch eine psychotherapeutische Unterstützung zu dem gehören, was benötigt wird. „Das ist ein Riesenproblem. Denn nur in Ausnahmefällen gibt es die Möglichkeit, über das Asylbewerberleistungsgesetz psychologische Versorgung in Anspruch zu nehmen. Ansonsten zählt das nicht unter akute Versorgung’ – außer jemand hat vielleicht gerade eine schlimme Psychose“, sagt Laila Prager. Bei Traumata, Depressionen oder leichteren Psychosen werde die Notwendigkeit häufig nicht sofort erkannt. Und selbst wenn: Was für die Gesamtbevölkerung gilt, betreffe Geflüchtete in stärkerem Ausmaß. Es gebe zu wenig Therapieplätze sowie zu wenige Therapeut*innen, die in Traumatherapie ausgebildet seien und die Muttersprachen der Geflüchteten sprechen, sagt Prager. „Gerade Therapie aber ist auf Sprache und Kommunikation angewiesen.“
Aktuell erhielten nur drei Prozent aller geflüchteten Menschen mit psychologischem Behandlungsbedarf aufgrund traumatisierender Erfahrungen wie Folter, Krieg und Flucht eine entsprechende Versorgung, sagte Lukas Welz, Geschäftsleiter der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer e. V. (BAfF), in einem Interview mit ProAsyl. Darin sprach er auch über die jüngste Initiative von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, mehr Therapeut*innen zur Behandlung besonders vulnerabler Personen zu ermächtigen. Er kritisiert, dass diese Lösung nur für gesetzlich Krankenversicherte gelte – nicht solche, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beziehen.

Auch wer keine Krankenversicherung hat, findet Unterstützung bei psychosozialen Beratungsstellen und Krisentelefonen, sagt Carolin Ochs. Sie hat ein Modul für das E-Learning-Angebot LUBE – Lernen, Unterstützen, Beraten, Empowern gegen Diskriminierung im Gesundheitswesen der Deutschen Aidshilfe ein E-Learning Modul für Berater*innen erstellt. Das E-Learning-Angebot ist primär für Berater*innen in Antidiskriminierungsstellen gedacht, das Modul zur Beratung von Menschen ohne Krankenversicherung ist allgemein für Personen geeignet, die im Beratungsalltag Menschen ohne Krankenversicherung begegnen. Ochs betreibt die Webseite www.kv-fragen.de zu Fragen um die gesundheitliche Versorgung von Menschen ohne Krankenversicherung.
Bei der Clearingstelle der Berliner Stadtmission hat sie nicht-krankenversicherte Menschen beraten. Einige Bundesländer haben solche Stellen eingerichtet, die versuchen, Menschen ohne oder ohne ausreichenden Krankenversicherungsschutz zu unterstützen. In Berlin gibt es den Checkpoint BLN, der in Zusammenarbeit mit der Clearingstelle HIV-Medikamente ausgeben kann und regulär eine umfassende Beratung zu sexuell übertragbaren Infektionen (STI) und eine Versorgung dieser anbietet.
Laut Laila Prager leben in Deutschland je nach Schätzungen zwischen 108.000 und 500.000 illegalisierte Migrant*innen. Clearingstellen seien gute Anlaufpunkte, aber es sei auch mit Hürden verbunden, dorthin zu gehen. „Es gibt Menschen, die das nicht schaffen, weil sie einfach psychisch zu labil sind und nicht die Kraft haben“, sagt Lothar Linzen.
Die Situation in Deutschland variiere von Ort zu Ort und sei teilweise unübersichtlich, kritisiert Carolin Ochs. Auch zivilgesellschaftliche Organisationen wie die Malteser Medizin für Menschen ohne Krankenversicherung, die Medinetze oder Ärzte der Welt unterstützten Menschen ohne Papiere gesundheitlich. „Meistens geht es dabei um Grundlagenversorgung: Pflaster kleben, desinfizieren, Fieber messen, Schmerzmittel geben.“ Einige Anlaufstellen kauften Medikamente, um zum Beispiel chronische Krankheiten wie Diabetes oder Bluthochdruck versorgen zu können, einige nehmen auch Spenden von nicht mehr benötigten Medikamenten entgegen. „Aber wenn es komplexer wird, dann wird es wirklich schwierig. Es gibt in Deutschland durchaus noch Menschen, die wegen HIV-Infektionen ins Krankenhaus kommen, weil sie keine Medikamente bekommen.“ Krankenhäuser dürften im Notfall niemanden abweisen. Es passiert allerdings immer wieder, dass Ratsuchende in der Beratung berichten, dass sie in der Notaufnahme abgewiesen wurden. Manche Krankenhäuser verlangen eine Vorabzahlung oder eine Kaution, wenn ein*e Patient*in keine Krankenversicherung hat. Das dürfe im Notfall aber keine Voraussetzung für eine Versorgung sein, sagt Carolin Ochs. Krankenhäuser blieben am Ende oft auf den Kosten sitzen, denn die Kostenrückerstattung durch die Sozialämter funktioniere nicht.
Die Gruppe von Menschen ohne Krankenversicherung ist sehr heterogen: Es gibt Deutsche ohne Krankenversicherung, sehr viele Menschen aus anderen EU-Staaten und auch Personen, deren Asylantrag abgelehnt wurde – aber aus bestimmten Gründen nicht zurückgehen können oder wollen.

„Aus einem Geflüchteten wird so ganz schnell ein Mensch ohne Papiere“, sagt Lothar Linzen. In dieser Situation sei auch Ahmed. „Letzte Woche sind drei seiner Freunde abgeschoben worden.“ Ahmed habe große Angst davor, zurück nach Pakistan zu gehen. Ahmed plane, unterzutauchen und nach Portugal zu gehen, weil er sich dort bessere Chancen auf einen Aufenthaltstitel ausrechne. Aus seiner eigenen Erfahrung sei es dort aber noch schwieriger, an Medikamente zu kommen, sagt Lothar Linzen. Aber was ist die Alternative? Viele abgelehnte Asylbewerber hätten kein Geld, um sich einen Anwalt zu nehmen. „Ihre finanzielle Situation ist so prekär, dass sie ihren Reche gar nicht einfordern können.“
In ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der Gruppe Die Linke geht die Bundesregierung nicht weiter auf die Frage ein, inwiefern HIV-Positive ohne Aufenthaltsrecht ohne Angst vor Abschiebung angemessene Behandlungsmöglichkeiten in Anspruch nehmen können. Begrüßt werde die Schaffung von Clearingstellen, was jedoch Ländersache sei. Die Bundesregierung verweist auf mehrsprachige Informationsangebote bei der BZgA (www.zanzu.de) und auf www.migration-gesundheit.bund.de.
Auch Ausreisepflichtige hätten theoretisch Anspruch auf Asylbewerberleistungen, sagt Carolin Ochs. Praktisch aber stehe dem die Pflicht zur Datenweitergabe im Weg. „Wenn man zum Sozialamt geht und sagt: ,Ich hätte gerne einen Krankenschein’, ruft das Sozialamt die Polizei oder meldet das bei der Ausländerbehörde. Dann werden die Daten aufgenommen, Fingerabdrücke genommen und im schlimmsten Fall kommt man in Abschiebehaft.“
Eine Möglichkeit, das Problem der Datenweitergabe zu umgehen, wären anonymisierte Krankenscheine, die bei Clearingstellen ausgegeben werden könnten, sagt Laila Prager. Dringenden Verbesserungsbedarf sieht sie auch in der psychologischen und psychotherapeutischen Versorgung von Geflüchteten. Dafür sei wichtig, dass mehr Psychotherapeut*innen ausgebildet werden, die selbst eine Migrationsgeschichte mitbringen. Lange und teure Ausbildungswege aber erschwerten es, diesen Weg einzuschlagen.
Ein grundsätzliches Problem sei, dass bei der gesundheitlichen Versorgung von Geflüchteten vieles nicht so funktioniere wie in den Gesetzen vorgesehen. Das sieht auch Lothar Linzen so. „Die rechtliche Lage ist im Großen und Ganzen in Ordnung“, sagt er. Es müsse aber dafür gesorgt werden, dass diese umgesetzt werde. Einer seiner Verbesserungsvorschläge ist, die antiretrovirale Therapie ganz aus dem Versicherungssystem rauszunehmen und über staatliche Leistungen zu finanzieren – so, wie auch bei Tuberkulose das Gesundheitsamt die Versorgung übernehme. „Dann würden alle Menschen HIV-Medikamente bekommen – ob du nun versichert bist oder nicht, egal welchen Status du hast.“
Inga Dreyer