„Gerade in der Pflege ist es wichtig, dass man vertrauensvoll und offen sprechen kann“

Wie findet man queersensible Pflegedienste? Wie geht gelebte Toleranz in einer Altenpflegeeinrichtung? Und was brauchen Menschen mit HIV im Alter? Einblicke, welche Angebote es bereits gibt und was es noch braucht, geben Andreas Schütz, Jens Zeise und Udo Scheinpflug.
„Ein guter Freund ist gerade da“ oder „Mein Nachbar ist zu Besuch“: Solche Sätze hat Andreas Schütz schon häufiger gehört, wenn er als Pflegeberater bei älteren Männern in Berlin-Schöneberg zu Besuch war. Obwohl er im Beruf normalerweise wenig von seinem Privatleben erzählt, erwähnt er in solchen Fällen schon mal, dass er selbst mit seinem Mann zusammenlebt. „Ich möchte signalisieren: Es ist ok, wenn ihr offen über eure Situation sprecht. Gerade in der Pflege ist es wichtig, dass man vertrauensvoll und offen sprechen kann.“
Als Pflegeberater in Berlin hat er viele ältere Schwule und Lesben kennengelernt und erfahren, dass Sorgen und Ängste in Bezug auf das Thema Pflege eine große Rolle spielen. „Wenn wir ein bisschen vertrauter waren, wurde ich oft gefragt: Mensch, kennst du nicht ’nen Pflegedienst, wo Schwulen oder Lesben arbeiten, die zu uns kommen könnten?“
Online-Portal rund um queersensible Pflegeangebote
So entstand die Idee, Queer Pflege aufzubauen, ein Online-Portal mit Informationen zu queersensiblen Pflegeangeboten. Schütz betreibt es seit Ende 2022 ehrenamtlich neben seinem Job als Pflegeberater, den er kürzlich aufgegeben hat, um sich selbstständig zu machen. Nun betreibt er den nach eigenen Aussagen ersten LSBTI-Alltagshilfedienst und leistet alltägliche Hilfe für queere Menschen, die einen Pflegegrad haben und Unterstützung brauchen. Bezahlt wird das über die Pflegeversicherung.

Seit Kurzem hat Schütz zwei ehrenamtliche Unterstützer für Queer Pflege, das zu einem großen Fundus an Informationen angewachsen ist. Es finden sich Hinweise zu queersensiblen Pflegehilfen in ganz Deutschland, Studien und Artikel, eine Austauschgruppe und das Angebot, Annoncen für Hilfegesuche aufzugeben.
Verzeichnet sind unter anderem Anbieter*innen, die mit dem Qualitätssiegel Lebensort Vielfalt zertifiziert wurden. Das Qualifizierungsprogramm der Schwulenberatung Berlin richtet sich an Pflegedienste, Krankenhäuser und andere Gesundheitsanbieter, die Voraussetzungen für LSBTI*-sensiblen und interkulturellen sowie rassismuskritischen Umgang schaffen möchten. Zu finden sind auch Einrichtungen, die an Fortbildungen der Arbeiterwohlfahrt im Rahmen des Projekts Queer im Alter teilgenommen haben oder mit dem Regenbogenschlüssel zertifiziert sind. einem niederländischen Qualitätssiegel für Altenhilfe und Pflege, für das sich auch Einrichtungen in Deutschland qualifizieren können.
Andere Anbieter*innen wurden von Beratungsstellen empfohlen. Um einen eigenen Eindruck zu bekommen, telefoniert Schütz in der Regel mit Einrichtungen und befasst sich mit dem Leitbild. „Dabei war mein Eindruck, dass die Heimleitungen, mit denen ich gesprochen habe, wirklich dahinterstanden und kein Pinkwashing betrieben.“ Zwei der Einrichtungen wollten trotzdem nicht bei Queer Pflege auftauchen – aus Angst vor ablehnenden Reaktionen aus der Öffentlichkeit. Sich öffentlich als queerfreundlicher Anbieter zu positionieren, scheint also noch keine Selbstverständlichkeit zu sein.
Eine Regenbogenfahne kann nur ein Anfang sein
Auch beim Thema HIV herrschten immer noch Vorurteile, sagt Schütz. „Es gibt Pflegedienste, die sagen: Wir nehmen keine HIV-positiven Menschen, weil wir unsicher sind. Das kann ich überhaupt nicht verstehen, denn das sind ja gelernte Pflegefachkräfte. Die sollten wissen, dass normale Hygienestandards ausreichen.“
Schütz betont, dass Pflegeanbieter*innen auf unterschiedliche Menschen und Lebensweisen vorbereitet sein müssen, um sensibel reagieren zu können. Bei älteren queeren Personen könne es beispielsweise sein, dass sie ihr Leben lang versteckt gelebt haben.
“Um so wichtiger ist es, dass Einrichtungen selbst aktiv werden und Akzeptanz und ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Und wenn es nur eine kleine Regenbogenfahne auf der Internetseite ist. Das ist ein Anfang, um Sichtbarkeit herzustellen.“ Jens Zeise
“Um so wichtiger ist es, dass Einrichtungen selbst aktiv werden und Akzeptanz und ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Und wenn es nur eine kleine Regenbogenfahne auf der Internetseite ist. Das ist ein Anfang, um Sichtbarkeit herzustellen.“ Inzwischen hängt auch an der Altenpflegeeinrichtung, in der Jens Zeise arbeitet, eine Regenbogenfahne. Am Anfang habe ich mich tatsächlich dagegen gewehrt, weil ich der Meinung war: Eine Fahne kann jeder aufhängen. Es muss in die Köpfe der Menschen rein, das war mir wichtig.“
Jens Zeise ist Wohnbereichsleiter und stellvertretender Pflegedienstleiter einer Altenpflegeeinrichtung der AWO in Köln. Kurz, nachdem er dort angefangen hatte, sei er mit rubicon in Kontakt gekommen, einem Verein für Beratung, Gesundheitsförderung und Unterstützung für LSBTIQ in Köln. „Wir haben uns als Einrichtung schon lange in diesem Bereich engagiert, aber nicht mit Zertifizierung.“ Dann erfuhr das Team vom Lebensort Vielfalt und überzeugte die Fachbereichsleiterin schnell, teilzunehmen. „Wir haben dann 75 Prozent aller Mitarbeitenden in LSBTIQ-sensibler Pflege und 25 Prozent aller Mitarbeitenden in Trans- Inter- und HIV-Aids-sensibler Pflege geschult“, erzählt Zeise. Auch er berichtet von Pflegekräften mit Ängsten in Bezug auf HIV, die so abgebaut werden konnten. In den Fortbildungen hätten die Mitarbeitenden viel gelernt. „Wir fragen zum Beispiel nicht mehr nach Familie, sondern einfach, wen wir benachrichtigen dürfen. Auch bei Heterosexuellen kann es ja sein, dass man einer lieben Freundin nähersteht als dem eigenen Sohn.“
Die Einrichtung solle ein offenes Haus sein, in dem sich Bewohner:innen und Mitarbeitende mit Offenheit und Respekt begegnen, sagt Zeise. Es gab schon Ausflüge in schwule Clubs und zum CSD sowie Lesungen von queeren Schriftsteller*innen. In Zusammenarbeit mit dem Verein queer.salam.cologne versuche die Einrichtung, queere Fachkräfte aus arabischen Ländern wie dem Irak und Syrien einzustellen, um ihnen Schutz und Arbeitsmöglichkeiten zu bieten. Seit der Zertifizierung als Lebensort Vielfalt melden sich insgesamt mehr Menschen aus der queeren Community auf Stellenangebote.
Nicht immer gelingt ein friedliches und tolerantes Miteinander. Unter den Bewohner:innen komme es „knallhart“ zu Diskriminierungen, sagt Zeise. So komme es durchaus vor, dass rassistische Sprüche geäußert werden. Gegen einen Bewohner wurde gestichelt, der einen 20 Jahre jüngeren Freund hatte. „In solchen Fällen gehen wir ins Gespräch mit den Bewohner:innen, soweit das möglich ist.“
Natürlich sei das Haus auch offen für Mitarbeitende und Bewohner:innen, die HIV positiv sind – bisher keine Selbstverständlichkeit für Pflegeeinrichtungen, auch in Köln.
Menschen mit HIV im Alter wünschen sich ein diskriminierungsfreies Leben
"Die Mehrheit der Menschen mit HIV in Deutschland ist über 50 – es gibt aber nur wenig Forschung und Berichterstattung dazu". Udo Scheinpflug
Welche Fragen sich für ältere Menschen mit HIV stellen, welche Gedanken und welche Bedarfe sie haben, interessiert Udo Scheinpflug. Er ist Sozialarbeiter bei der aidshilfe leipzig und schreibt seine Masterarbeit im Fach Angewandte Sexualwissenschaft an der Hochschule in Merseburg zum Thema HIV im Alter. Unterstützt wird er dabei durch ein Stipendium der Deutschen AIDS-Stiftung. Ursprünglich wollte er über junge Menschen mit HIV schreiben. „Aber dann habe ich gesehen: die spielen im Vergleich eine kleine Rolle. Die Mehrheit der Menschen mit HIV in Deutschland ist über 50 – es gibt aber nur wenig Forschung und Berichterstattung dazu.“

Mit sieben Personen, die mit HIV infiziert und älter als 60 sind, hat er über Bedarfe und Herausforderungen gesprochen. Aus den Interviews möchte er konkrete Ideen dafür ableiten, um ältere Menschen gezielt zu unterstützen.
Viele Fragen, die dabei auftauchten, beschäftigen auch andere Menschen, die älter werden, sagt Scheinpflug: „Wie wohne ich? Wie bleibe ich gesund?“ Bei einigen spiele die Infektion weniger, bei anderen stärker hinein – beispielsweise, wenn es darum gehe, wie offen man in einer Einrichtung mit HIV umgehen könne. „Oder auch ob der der eigene Lebensstil in so eine Institution passt.“
Die Auswertung sei noch nicht abgeschlossen, aber es kristallisierten sich bereits einige zentrale Themen heraus. Auf individueller Ebene gebe es einen großen Bedarf nach Unterstützung im Alltag sowie Anlaufstellen mit niedrigschwelliger Beratung zu Themen wie Rente und Reha. „Das fand ich spannend, weil ich dachte: Aidshilfe ist doch eine gute Anlaufstelle. Aber vielleicht gibt es noch Bedarf nach Schulungen und Sensibilisierung für die Themen älterer Menschen“, überlegt Scheinpflug.
Auf sozialer Ebene wurde der Wunsch nach Community-basierten Austausch- und Unterstützungsformaten wie beispielsweise Seniorencafés deutlich. „Schön wäre, wenn Menschen, die Kapazitäten haben und mobil sind, anderen helfen könnten. Ich denke, Aidshilfe kann für so etwas eine gute Plattform bieten.“ Auf struktureller Ebene sei es wichtig, Diskriminierung in Pflegeheimen abzubauen. „Auch das ist eine Aufgabe für die Aidshilfe“, sagt Scheinpflug.
In den Gesprächen sei deutlich geworden, dass sich verschiedene Formen von Diskriminierung überschneiden. Dabei spielen Merkmale wie körperliche Einschränkungen, Behinderungen, HIV, Herkunft, Hautfarbe und auch sexuelle Orientierung eine Rolle. „Das fand ich sehr eindrücklich zu sehen.“
„Es wäre schön, wenn Einrichtungen so vorbereitet wären, dass dort alle Menschen ein würdevolles, selbstbestimmtes Leben führen können.“ Udo Scheinpflug
Deutschlandweit gibt es einige Orte und Initiativen, die sich mit queersensibler und HIV-sensibler Pflege beschäftigen – etwa die Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren e.V. oder auch die Positiventreffen der Deutschen Aidshilfe. Neben den Wohnprojekten Lebensort Vielfalt nennt Scheinpflug auch Leine38, ein Wohnhaus der Deutschen AIDS-Stiftung mit barrierefreiem Wohnraum für HIV-positive und aidskranke Menschen in Hannover.
Gerade in Ballungsgebieten gebe es bereits HIV-spezifische Pflegeeinrichtungen. „Ich denke, es ist unheimlich wichtig, dass es sie gibt. Nichtsdestotrotz leben ja Menschen mit HIV nicht nur in Ballungsgebieten“, sagt Scheinpflug. Deshalb sei es wichtig, auch in der Breite für das Thema zu sensibilisieren. „Es wäre schön, wenn Einrichtungen so vorbereitet wären, dass dort alle Menschen ein würdevolles, selbstbestimmtes Leben führen können.“
Inga Dreyer