Das globale Dorf im Austausch
Nicht von ungefähr betrat man die Halle zum – für alle frei zugänglichen – „Global Village“ durch einen riesigen Regenbogen. Rund 200 HIV-Organisationen und Community-Initiativen aus aller Welt präsentierten sich dort auf Bühnen und an eigenen Ständen: internationale Sexarbeiter*innen-Vereinigungen neben Trans-Organisationen und Initiativen von Drogengebraucher*innen. Auf besonders großen und einladenden Ständen konnten sich Frauen, Jugendliche bzw. ältere Menschen mit HIV aus aller Welt austauschen. Und mittendrin der Stand der Deutsche Aidshilfe, deren Networking Zone für fünf Tage zu einem Ort der Begegnung und des Lernens wurde.
Das Programm war eng getaktet und die Besucher*innen konnten täglich an einem guten Dutzend Vorträgen, Aktionen, Workshops und Talkrunden teilnehmen. Das Spektrum reichte von der HIV/STI-Aufklärung für Gehörlose über Gesundheit in Haft bis zu einem Training zur Naloxon-Anwendung, mit dem bei Opioid-Überdosierungen Leben gerettet werden kann. Und, das gab es nur in der Networking Zone der DAH: Alle Vorträge wurden synchron auf Englisch, Deutsch und Russisch übersetzt. So konnten noch mehr Menschen sich aktiv beteiligen und mitdiskutieren.
Fluffig weiche Stoffvulven
Wer wollte, konnte unter Anleitung der Frauen der nordrheinwestfälischen Aktivist*innengruppe XXelle PLUS Vulven basteln. Was wie eine lustige Aktion klingt (und das war es in der Tat auch), hatte einen ernsten Hintergrund. „Wir haben bewusst nach einem Angebot gesucht, bei dem die Leute stehen bleiben und – nicht nur Frauen – sich mit dem Geschlechtsteil Vulva auseinandersetzen“, erzählt Johanna Verhoeven von XXelle PLUS. Denn Frauen mit HIV sind nicht nur in wissenschaftlichen Studien, sondern auch in Aidshilfen immer noch stark unterrepräsentiert. Doch HIV ist auch weiblich. Um darauf aufmerksam zu machen, hat sich XXelle PLUS vor Jahren bereits ein unmissverständliches Logo zugelegt.
Frauen mit HIV sind allerdings auch spezifischen Diskriminierungen ausgesetzt, etwa wenn es um Kinderwunsch und Schwangerschaft geht. Ein krasser, aber leider keineswegs exotischer Fall wurde in einer Talkrunde zu diesem Thema geschildert. Einer Schwangeren, die zur Entbindung in eine renommierte deutsche Uniklinik gegangen war, wurde eine eigene Toilette zugewiesen. Und zwar nicht aus Nettigkeit, sondern um eine Ansteckung anderer Patient*innen mit HIV zu verhindern! Erst nachdem die regionale Aidshilfe interveniert und mit dem zuständigen Oberarzt das Gespräch gesucht hatte, wurde die gesonderte Toilette abgeschafft. Wirklich verstanden aber hatten die Verantwortlichen ihre unsinnige Entscheidung offenbar nicht. Voraussetzung war nun, dass die Viruslast der Schwangeren unterhalb der Nachweisgrenze ist. Hätte sich im Gesundheitswesen nicht langsam herumsprechen müssen, dass es auf den stillen Örtchen keinerlei Infektionsrisiken gibt - ganz gleich wie hoch oder niedrig die Viruslast ist? Kerstin Mörsch von der DAH- Kontaktstelle für HIV-bezogene Diskriminierung hat für das Verhalten der Klinik keinerlei Verständnis. „Ich verstehe, dass in einem solchen Großbetrieb noch uralte Hygienevorschriften schlummern können. Aber wenn ich die finde, dann sollte ich sie wie ein faules Ei entsorgen.“
Diskriminierung im Kreißsaal
Auch bei der Frage, ob Frauen mit HIV vaginal, also ohne Kaiserschnitt entbinden können bzw. stillen dürfen, sind viele Kliniken und Hebammen nicht auf dem aktuellen medizinischen Stand. Beides ist dank HIV-Therapie längst möglich. Das wird den Frauen aber oft nicht mitgeteilt und es wird ihnen z.B. vom Stillen abgeraten. Die Mütter sind dann unter Umständen schnell verunsichert, selbst wenn sie – anders als die zuständigen Fachkräfte – die medizinischen Leitlinien gelesen haben.
Eine der wichtigsten Aufgaben für Beratungsstellen bleibe daher, „die Frauen zu empowern, damit sie sich selbst vertrauen“, betont Hannah Harms, Beraterin in der Fachstelle Sexualität und Vielfalt e. V.. Doch eigentlich müsste das medizinische Fachpersonal den Stand der Wissenschaft kennen und die Frauen entsprechend beraten. „Nicht alle Schwangere sind Aktivist*innen. Sie sollten sich ihre Rechte nicht im Kreißsaal erkämpfen müssen“, sagt Hannah Harms.
„N = N“: Eine tolle Botschaft mit unerwarteten Folgen
Lückenhaftes Wissen ausgerechnet bei medizinischen Fachkräften führt nicht nur bei Schwangeren zu diskriminierenden Verhalten. Immer häufiger erleben Menschen mit HIV, dass die Frage nach der aktuellen Viruslast die Art und Weise der medizinischen Behandlung und des zwischenmenschlichen Umgangs bestimmt – sei es in der Zahnarztpraxis, bei routinemäßigen operativen Eingriffen oder bei Betriebsärzt*innen. Die Viruslast erhält – ausgerechnet beim medizinischen Fachpersonal – zunehmend eine Bedeutung und Wichtigkeit, die sie für die Behandlungen gar nicht hat.
Sechs Jahre nach dem Start der internationalen „N = N“-Community-Kampagne machen sich deshalb Ernüchterung, Enttäuschung und Verärgerung breit. „Es ist bedenklich, dass im Gesundheitswesen die Erwartung vorherrscht, dass ich als Patient medizinisch die Verantwortung für den Infektionsschutz übernehme, damit sich das Personal sicherer fühlt“, brachte es ein Zuschauer bei einer Networking-Zone-Diskussion auf den Punkt.
Dabei waren mit der Erkenntnis, dass bei einer erfolgreichen Therapie HIV nicht mehr im Blut nachweisbar ist und deshalb auch nicht übertragen werden kann, große Hoffnungen verbunden. Darunter auch ein Ende des HIV-Stigmas.
Der Slogan „N = N“ (nicht nachweisbar = nicht übertragbar) bzw. „U = U“ (undetectable = untransmittable) war deshalb bei vielen Organisationen im Global Village eine zentrale Botschaft. An ihr kam auf der Konferenz faktisch niemand vorbei. Auf sie zu verzichten, kann keine Lösung sein. Die Schutzwirkung ist seit 2008, als der Fakt erstmals von der Eidgenössische Kommission für Aids-Fragen der Schweiz publiziert wurde, mehrfach durch wissenschaftliche Studien bestätigt worden „Wir als Community und als Aidshilfe müssen klarmachen, für welche Bereiche diese Information wichtig ist – und für welche nicht“, erklärte Kerstin Mörsch.
Gut gelungener Transfer aus dem „Reich der Wissenschaft“
Woran Forschungsteams rund um den Globus aktuell arbeiten, wurde auf vielen Hundert sogenannter Sessions im Hauptteil des Münchner Messezentrums vorgestellt und diskutiert. Die wichtigsten Präsentationen haben der ehemalige DAH-Referent Armin Schafberger und die Wiener Expertin für Wissenschaftskommunikation Mag. Birgit Leichsenring verfolgt und allabendlich, sozusagen frisch aus dem Vortragssaal, für die Community in der DAH-Networking Zone zusammengefasst. Für viele Global Village-Besucher*innen war dies ein Highlight des Tages. Denn dem Duo Leichsenring/Schafberger gelang es auf gut verständliche, unterhaltsame Weise und zugleich mit kritischem und communitybezogenem Blick aktuelle Forschungs- und Studienergebnisse vorzustellen. Das Interesse an den „Breaking News“ war so groß, dass die Schar der Menschen, die sich um den DAH-Stand drängelten von Tag zu Tag wuchs.
Eines der Highlights der AIDS2024 war sicherlich die Präsentation eines neuen „Berliner Patienten“. Mit ihm gibt es nun insgesamt fünf Menschen weltweit, die faktisch von HIV geheilt werden konnten – allerdings mit einer sehr speziellen und aufwendigen Stammzelltransplantation. Dieser Erfolg könnte jedoch wichtige Erkenntnisse für die weitere Entwicklung einer HIV-Heilung bringen.
Ein Medikament das die Wende in der HIV-Epidemie bringen könnte
Die eigentliche Sensation aber war die Verkündung der Ergebnisse der sogenannten PURPOSE-1-Studie. Das bislang für HIV-Behandlung zugelassene Medikament Lenacapavir © funktioniert nämlich auch als PrEP-Medikament. Es genügen zwei Spritzen pro Jahr, um vor einer HIV-Infektion zu schützen – und zwar bei cis Frauen zu 100 Prozent, so die Studienergebnisse. Lenacapavir© könnte zu einem wahren „Game Changer“ für die HIV-Epidemie werden, weil damit insbesondere Frauen und Mädchen in afrikanischen Ländern vor HIV geschützt und die Infektionsketten unterbrochen werden können.
Sharon Lewin, Präsidentin der International AIDS Society, sprach deshalb auch von einem „bahnbrechenden Fortschritt“ und einem „enormen Potenzial für die öffentliche Gesundheit.“ Wäre da nicht das Pharmaunternehmen Gilead Sciences, welches das Patent für Lenacapavir© besitzt und den Preis für das Medikament bestimmt. Der liegt derzeit bei rund 40.000 Dollar – pro Person und Jahr! Generika könnten für rund 40 Dollar produziert werden und so in den stark von HIV betroffenen Gegenden des Globalen Südens Entscheidendes bewirken.
Lautstarke Proteste gegen Pharmahersteller
Gilead Sciences sah sich in München deshalb heftigen Protesten ausgesetzt. Bei einer Demonstration und auf der Eröffnungsveranstaltung forderten Aktivist*innen mit Sprechchören wie „Menschen vor Profit“ und „Gileads Gier tötet“ das Unternehmen auf, einen erschwinglichen Zugang zu dem Medikament zu gewährleisten.
Bei solchen Aktionen zeigte sich auch wieder, wie kräftig, laut und unüberhörbar die HIV-Community sein kann, wenn sie sich zu einer politischen Stimme vereint. Für viele, die dies in München miterlebten, war das ein besonders eindrückliches und empowerndes Erlebnis. In einem zwar kleineren Maße gelang dies auch bei einer recht kurzfristig von deutschen Organisationen anberaumten Demo. Unter dem internationalen Motto „Together for Diversity, Justice and Health“ zogen rund 200 Kongressteilnehmende und Unterstützer*innen aus der Münchner Community durch die Innenstadt. Schilder in verschiedenen Sprachen wendeten sich nicht nur gegen Rassismus, Stigma und Diskriminierung, sondern auch gegen die Angriffe Russlands auf die Ukraine und für Menschenrechte in aller Welt.
„Es fühlt sich gut an, München und der Welt zu zeigen, dass wir vereint sind, dass wir laut sind, dass wir divers und dass wir alle für eine weltweite Solidarität stehen“, sagte auf der Abschlusskundgebung Gabi Trost von den Münchner Positiven. Eine Botschaft, die die Teilnehmenden sicherlich sehr gerne in ihre jeweiligen Heimatstädte mitgenommen haben.
Axel Schock