Arbeit gehört dazu – Wir und andere Chroniker_innen auch
HIV ist längst zu einer behandelbaren chronischen Erkrankung geworden und die Mehrheit der Menschen mit HIV steht fest im Berufsleben. So wie beispielsweise auch viele Rheumatiker_innen und Menschen mit Multipler Sklerose. Doch wie offen können sie am Arbeitsplatz mit ihrer Erkrankung umgehen? Erleben chronisch Erkrankte in gleichem Maße Unterstützung oder erleben sie Diskriminierung? Das Ergebnis einer Umfrage in Nordrhein-Westfalen liefert eindrückliche Ergebnisse. Stephan Gellrich hat das Projekt für die Aidshilfe NRW begleitet.
Die Studie „Chronische Erkrankungen am Arbeitsplatz“ ist ein Gemeinschaftsprojekt der Aidshilfe NRW, der Deutschen Rheuma-Liga NRW und des NRW-Landesverbandes der Deutschen Multiple-Sklerose-Gesellschaft. Diese Kooperation von Interessenverbänden chronisch Erkrankter mit der Aidshilfe ist bislang einmalig. Eigentlich überraschend, oder?
Stephan Gellrich: In der Tat. Diese drei relativ großen nordrhein-westfälischen Verbände sind zusammen mit vielen anderen Organisationen der Gesundheitselbsthilfe schon lange im sogenannten „Wittener Kreis“ verbunden und tauschen sich dort auch miteinander aus. Aber man darf nicht vergessen, dass diese Verbände alle auch vom gleichen Kuchen essen, und man sich daher durchaus auch in einer Konkurrenzsituation befindet. Das Thema Chronische Erkrankungen am Arbeitsplatz verfolgen wir schon seit 2012. Solche Projekte im Bereich der Gesundheitsselbsthilfe sind über die sogenannte §20 Selbsthilfeförderung der gesetzlichen Krankenkassen förderfähig. Gewöhnlich stellen dort die Verbände Anträge für sich allein, wir konnten aber die Verbände davon überzeugen, dass dies ein gemeinsames Thema ist. Bis dann einige Krankenkassen bereit waren, unser Projekt zu finanzieren, hatte es dann aber nochmal zwei Jahre gedauert.
An der Studie haben über 1.200 Menschen teilgenommen und es entstand sehr viel Zahlenmaterial. Was war für dich die überraschendste Erkenntnis?
Überrascht war ich, dass so viele Menschen mit chronischen Erkrankungen berufstätig sind: 16 Millionen! Zwischen 43 und 48 Prozent der Bevölkerung haben eine chronische Erkrankung. Das zeigt, dass dies keineswegs nur ein Randthema ist. Eindrücklich fand ich auch: Was die Auswirkungen auf den Arbeitsbereich angeht, unterscheidet sich HIV überhaupt nicht von anderen chronischen Erkrankungen. Auch die Schwierigkeiten, die solche Beschäftige haben, sind recht ähnlich; egal, ob sie an rheumatischen Erkrankungen, Multipler Sklerose oder einer HIV-Infektion leiden.
Mit welchen Problemen haben chronisch Erkrankte am Arbeitsplatz zu kämpfen?
Es sind vor allen die sogenannten psychosozialen Probleme im Job: Das heißt, über ein Drittel gab an, dass die Betriebskultur für chronisch Kranke wenig unterstützend war. Sie haben beispielsweise Schwierigkeiten, frei zu bekommen, um Arztbesuche wahrnehmen zu können. Auch Probleme mit Vorgesetzten und Kolleg_innen wurden gleichermaßen oft angeführt.
Wir gehen davon aus, dass 75 Prozent der Menschen mit HIV berufstätig sind. Wie sehen die Ergebnisse in Bezug auf Vollzeit und Teilzeitbeschäftigung aus?
Bei Menschen mit HIV lag der Anteil der Vollbeschäftigten bei 61 Prozent und damit 10 Prozent höher im Vergleich zu den anderen Erkrankungen. Das hat allerdings damit zu tun, dass der Anteil der Männer bei HIV-Infektionen deutlich höher ist und Frauen häufiger Teilzeit arbeiten.
Mit welchen Vorurteilen und veralteten Vorstellungen sehen sich HIV-positive Beschäftige bei einem Coming-out am Arbeitsumfeld konfrontiert?
Das sind immer noch die Evergreens, wie ich das nenne: Es geht um den Zweifel an der Leistungsfähigkeit, die vermuteten höheren Ausfallzeiten – da hat die Studie genau das Gegenteil belegt. Es geht aber auch um Infektionsängste, was sich auf den Umgang mit Kolleg_innen und Kundschaft auswirkt. Aber auch die Frage nach dem HIV-Test bei der Einstellung bewegt viele.
Wie zeigt sich das in Zahlen?
Wir haben danach gefragt, ob die Menschen mit ihren Erkrankungen offen am Arbeitsplatz umgehen. 57 Prozent der Menschen mit HIV haben das bejaht, 87 bzw. 92 Prozent jene mit Rheuma bzw. Multipler Sklerose. Das hat sicherlich damit zu tun, dass diese beiden Krankheiten sichtbar körperliche Einschränkungen mit sich bringen können, was bei HIV nicht der Fall ist. Man kann aber aus der Studie auch ersehen, dass Menschen mit HIV daran zweifeln, dass ihre Erkrankung am Arbeitsplatz akzeptiert wird. Sie vermuten vielmehr, Diskriminierung erfahren zu müssen. Diese Befürchtung haben übrigens auch die anderen chronisch Erkrankten; bei HIV liegt der Anteil aber deutlich höher. Die weniger gute Nachricht, die wir aus der Studie mitnehmen können: Menschen mit HIV haben immer noch große Angst vor einem Coming-out am Arbeitsplatz und vor der Diskriminierung durch Kolleg_innen und Vorgesetzte.
Kommen wir zur guten Nachricht. Fast die Hälfte das Beschäftigen mit HIV gab an, dass sich durch die Infektion keinerlei Veränderungen ergaben: weder wurden die Arbeitsstunden verringert, noch musste der Arbeitsplatz gewechselt oder angepasst werden. Das ist ein deutlicher Unterschied zu den anderen chronisch Erkrankten.
Das ist in der Tat eine gute Botschaft. Menschen mit HIV, die medizinisch gut versorgt sind, sind genauso leistungsfähig wie andere Beschäftigte auch. Sie haben auch deutlich weniger Fehltage als andere chronisch Erkrankte und sogar als der Durchschnitt aller Arbeitnehmer_innen. Einen wichtigen Indikator liefert übrigens auch der Schwerbehindertenausweis. Ungefähr die Hälfte der befragten Beschäftigten mit HIV haben einen Ausweis mit 50 und mehr Prozent, die andere Hälfte hat gar keinen. Das zeigt: Wir haben es hier mit zwei Generationen von Menschen mit HIV zu tun. Zum einen jene, die unter Langzeitnebenwirkungen zu leiden haben oder die erst spät behandelt wurden, und die jüngere Generation, die noch nicht so lange infiziert ist. Diese Menschen wurden oft auch früh behandelt, sind gut eingestellt und haben deshalb auch weniger gesundheitliche Einschränkungen. Auch ein weiterer Parameter ist aufschlussreich. Immerhin 44,5 Prozent der Menschen mit HIV haben angegeben, auch andere chronische Krankheiten zu haben. Wenn es ihnen also mal nicht so gut geht, muss es nicht unbedingt etwas mit HIV zu tun haben.
Das Bundesarbeitsgericht hat 2013 entschieden, dass Menschen mit HIV auch ohne Grad der Behinderung durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz geschützt sind. Was bedeutet das für Arbeitnehmer_innen mit HIV?
Das Urteil ist zweifellos ein Erfolg. Es sagt aber leider noch nichts darüber aus, wie die Arbeitsbedingungen vor Ort sein müssen. Insofern ist dies nur ein erster Schritt.
Aus der Studie ergaben sich Handlungsempfehlungen sowohl für die Erkrankten, die Arbeitgeber_innen, wie auch für die Selbsthilfe und die Politik. Was sind die wesentlichen Kernpunkte?
Es ist wichtig, dass wir etwas für die Arbeitnehmer_innen tun. Das aber geht nur, wenn wir die Arbeitgeber_innen mit ins Boot holen. Man muss auf das gesamte System schauen, um zu sehen, an welchen Schrauben man drehen muss, um es verbessern zu können. Es geht bei allen hauptsächlich darum, Systemkenntnisse zu haben, zu wissen wie man mit chronisch Erkrankten den Arbeitsplatz verbessern kann. Das kann etwa mehr Flexibilität bei der Arbeitszeit oder eine Veränderung des Arbeitsplatzes sein.
Es geht aber auch darum, Vertrauen, Mut und Solidarität und Unterstützung zu fördern. Gerade auf Seiten der Arbeitgeber_innen ist das eine Haltungsfrage. Sie müssen begreifen, dass Menschen mit chronischen Erkrankungen selbstverständlicher Teil ihrer Belegschaft sind und sie sich um gute Bedingungen kümmern müssen, damit diese Beschäftigten am Arbeitsleben teilhaben und entsprechende Leistungen erbringen können. Das ist unsere gemeinsame Zukunftsaufgabe!
Die Ergebnisse der Befragung sind online abrufbar:
Weitere Themen zu HIV in der Arbeitswelt behandeln wir in unserem Artikel „Karriere und Beruf mit HIV? Na klar!“
Dieser Artikel ist Teil unserer Aktion zum 1. Mai 2020 „Mit HIV arbeiten? Na klar!“ – mehr Infos dazu hier