Zahnärztin wirft Patienten wegen HIV aus der Praxis
Jahrelang hat E. Todaro ein gutes Verhältnis zu seiner Zahnärztin. Doch als diese von seiner HIV-Infektion erfährt, verweigert sie die Behandlung und schmeißt ihn raus.
„Es war, als liefe ein Film vor mir ab“, sagt E. Todaro, Mitte dreißig, als er von jenem denkwürdigen Tag erzählt. Seit einigen Jahren schon war er bei dieser Zahnärztin in einer Gemeinde in Nordbayern in Behandlung, verstand sich gut mit ihr und ihren Angestellten.
An jenem Tag im Frühjahr 2024 legt eine Zahnarzthelferin ihm erneut einen Anamnesebogen vor. Einen solchen Bogen hat Todaro schon einmal ausgefüllt, als er vor einigen Jahren in der Praxis aufgenommen wurde. Darauf steht auch die Frage nach HIV. Todaro lässt die Antwortkästchen „ja“ und „nein“ offen – wie damals schon. Der Grund: Er befürchtet Benachteiligungen, so wie viele andere HIV-positive Menschen auch.
HIV-Outing bei offener Tür
Doch dann: „Als ich im Behandlungsraum war, kam meine Zahnärztin herein und sagte sinngemäß – bei offener Tür, sodass andere mithören konnten: ‚Sie müssen mir doch mitteilen, dass Sie HIV-positiv sind. Sie gefährden mich, mein Personal und andere Patienten.‘“ Das Vertrauensverhältnis sei nun kaputt, habe die Ärztin gesagt.
Ich war einfach nur wütend. Mir sind die Tränen gekommen. Außerdem musste ich doch behandelt werden.
E. Todaro, dem seine Zahnärztin wegen seiner HIV-Infektion die Behandlung verweigerte
Todaro ist konsterniert und ruft seinen Ehemann an – auch, damit der alles mitbekommt. Und E. Todaro wehrt sich: „Ich bin seit sieben Jahren positiv und unter der Nachweisgrenze“, sagt er. (Anm. d. Red.: Das heißt, seine Medikamente unterdrücken die Vermehrung von HIV in seinem Körper so gut, dass die üblichen Nachweisverfahren nicht anschlagen.)
Woher sie von seiner Infektion wisse, fragt er seine Zahnärztin. Todaros Zahnzusatzversicherung habe den Hinweis gegeben, habe sie geantwortet.
Die Zahnärztin fühlt sich offenbar belogen und in Gefahr gebracht. Sie will, dass ihr Patient die Praxis verlässt, so schildert es Todaro. „Ich war einfach nur wütend“, sagt er. „Mir sind die Tränen gekommen. Außerdem musste ich doch behandelt werden.“
Wegen HIV erpresst
Heute fragt Todaro sich manchmal: Hätte er die Konfrontation durch die Ärztin vermeiden können? Vielleicht, indem er selbst das Gespräch gesucht hätte?
Er erzählt, er sei einmal in den Sozialen Medien erpresst worden: Er solle sich auf der Arbeit outen oder er würde als HIV-positiv enttarnt. Auf diesen Erpressungsversuch hin sei er dann in seinem Bekannten- und Arbeitskreis offener mit seiner HIV-Infektion umgegangen, um dem Erpressungsversuch vorzugreifen. Er hat unter anderem an einem Podcast teilgenommen, in dem er über sein Leben mit HIV sprach. „In der Regel bringt ein Offenlegen aber eher Probleme mit sich, als dass es hilft“, so Todaro.
Wissenschaftlich ist klar, dass seine Infektion für die Behandlung und das zahnärztliche Team oder andere Patient*innen irrelevant ist: Es besteht keine Ansteckungsgefahr, wenn die üblichen Vorsichtsmaßnahmen wie Handschuhe angewandt werden – und außerdem ist Todaro auch noch unter der Nachweisgrenze. „Deswegen habe ich mich dagegen entschieden, meine Infektion initiativ offenzulegen“, sagt Todaro.
Zahnärztekammer zieht keine Konsequenzen für die Ärztin
„Hätte ich damals alle Fragen beantwortet, dann wäre das alles nicht passiert“, sagt Todaro rückblickend. „Eigentlich mag ich meine Zahnärztin und vertraue ihr“, sagt er. „Wie gerne hätte ich ihr in Ruhe und unter vier Augen alles erzählt. Aber ich hatte nun einmal Angst in dieser Situation.“
Wie also umgehen mit diesem Vorfall? Todaro fühlt sich ungerecht behandelt und will sich wehren. Auf einer Bewertungsplattform für Ärztinnen und Ärzte sowie in einem Internetportal berichtet er anonym vom Vorfall in der Praxis. Außerdem meldet er sich bei seiner Zusatzversicherung und der Landeszahnärztekammer. Mit erstaunlichen Ergebnissen:
Die Zusatzversicherung antwortet Todaro, ihr lägen keine Kenntnisse über seinen HIV-Status vor. So steht es in einem Schreiben, das unserer Redaktion vorliegt. Von der Versicherung kann die Ärztin also nicht von seiner Infektion wissen.
Eigentlich mag ich meine Zahnärztin und vertraue ihr. Aber ich hatte nun einmal Angst in dieser Situation
E. Todaro, dem seine Zahnärztin vorwarf, er gefährde sie, ihr Personal und ihre Patient*innen
Die zuständige Zahnärztekammer kontaktiert die Ärztin und findet heraus: Eine Mitarbeiterin der Praxis habe – angeblich aus Interesse an Todaros beruflichem Werdegang – im Internet nach ihm gesucht, sei dabei auf ebenjenen Podcast gestoßen und meldete dies offenbar ihrer Chefin. Konsequenzen für die Praxis zieht die Zahnärztekammer aus dem Vorfall nicht, sondern will zwischen Ärztin und Betroffenem vermitteln, wie aus einem Schreiben an Todaro hervorgeht.
Die Zahnärztin haben wir damit konfrontiert. Wir wollten unter anderem wissen, welche Konsequenzen sie aus dem gesamten Vorfall gezogen hat, insbesondere aus der Tatsache, dass ihre Mitarbeiterin im Internet nach Informationen über einen Patienten der Praxis suchte. Die Ärztin wollte uns gegenüber aber nicht Stellung nehmen und verwies darauf, dass sie sich bereits ausführlich gegenüber der Landeszahnärztekammer geäußert habe.
Stigmatisierung, Indiskretion und Benachteiligungen bei der Behandlung für HIV-positive Menschen
„Da Menschen mit HIV in Deutschland selbst im Medizinsektor stigmatisiert werden und häufig schon negative Erfahrungen gemacht haben, sehen viele keine andere Wahl und berichten nicht von ihrer HIV-Infektion“, sagt der HIV-Mediziner Dr. Sebastian Noe vom Vorstand der Deutschen AIDS-Gesellschaft. Besonders in der Zahnmedizin bestehe ein großer Wissensrückstand zu HIV, so Noe.
Immer wieder erlebten Patient*innen Stigmatisierung und Benachteiligungen bei der Behandlung, so Noe weiter. „Es kann schon vorkommen, dass Akten in einer Praxis herumliegen, auf denen in Rot ‚HIV‘ steht, oder dass Behandlungen ans Ende des Tages verschoben werden“, erzählt Noe. Dem kommen Betroffene zuvor, indem sie einfach ihren Status offenlassen. Dabei mache gerade in der Zahnmedizin der Umstand, ob ein*e Patient*in HIV hat oder nicht, gar keinen Unterschied, so Noe.
Menschen mit HIV werden in Deutschland selbst im Medizinsektor stigmatisiert.
Dr. Sebastian Noe, HIV-Mediziner und Mitglied im Vorstand der Deutschen AIDS-Gesellschaft
Schließlich ist klar: Es gelten für alle Patient*innen – unabhängig von möglichen Infektionen – dieselben Hygienevorschriften und Schutzmaßnahmen. Zudem sind weltweit gar keine Fälle bekannt, bei denen HIV von Patient*innen auf Zahnmediziner*innen übertragen wurde (ebensowenig auf Mitarbeiter*innen oder andere Patient*innen). Und schließlich: Wer von seinem HIV-positiven Status weiß, nimmt in aller Regel HIV-Medikamente und ist unter der bereits erwähnten Nachweisgrenze, wodurch eine Übertragung praktisch ausgeschlossen werden kann. Schließlich hängt davon die Gesundheit von HIV-positiven Menschen ab.
Und falls der HIV-Status doch einmal offenbart wurde? „Besser, man kommt mit seinem Patienten ins Gespräch, lässt erzählen und hört zu, wenn man nicht weiß, was es für einen Menschen bedeutet, HIV-positiv zu sein“, sagt HIV-Mediziner Sebastian Noe.
Ärztinnen und Ärzte dürfen zwar ein Behandlungsverhältnis auflösen – aber nicht wegen HIV nicht behandeln
„Patienten haben Obliegenheitspflichten, das heißt, sie müssen mitwirken, damit Ärzte ihren Job machen können“, sagt Rechtsanwalt Jacob Hösl, der schon viele Mandant*innen in Fällen von HIV-Diskriminierung vertreten hat. „Bei einer Störung des Vertrauensverhältnisses kann ein Behandlungsabbruch legitim sein“, sagt Hösl.
Wann aber ist ein Vertrauensverhältnis zwischen Ärztin*Arzt und Patient*in gestört? Der Virchowbund, in dem niedergelassene Ärzt*innen in Deutschland zusammengeschlossen sind, gibt dafür ziemlich klare Kriterien an: „Das Vertrauensverhältnis kann zerrüttet sein, wenn der Patient sich nicht an Ihre ärztlichen Anordnungen hält, von Ihnen sittenwidrige oder standeswidrige Tätigkeiten verlangt (z. B. Falschabrechnung gegenüber der Krankenkasse) [oder] Sie drangsaliert durch dauernde nächtliche Anrufe, ungerechtfertigte Beschwerden, unnötige Forderungen nach Hausbesuchen etc.“ – von all dem oder ähnlichen Vorwürfen war bei E. Todaro nie die Rede.
Außerdem verbietet das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) Diskriminierung wegen einer Behinderung. Das umfasst neben körperlichen Beeinträchtigungen laut einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts von 2013 explizit auch HIV. Wenn Mediziner*innen ihre Patient*innen also wegen HIV nicht behandeln wollen, könne ein Fall von Diskriminierung vorliegen, sagt Rechtsanwalt Hösl.
HIV-positive Patienten dürfen Sie nicht ablehnen, denn das Infektionsrisiko für Sie, Ihr Team und andere Patienten lässt sich durch Schutzvorkehrungen beherrschen
Virchowbund, Vertretung niederlassungswilliger, niedergelassener und ambulant tätiger Ärzt*innen
Dazu noch einmal der Virchowbund: „HIV-positive Patienten dürfen Sie nicht ablehnen, denn das Infektionsrisiko für Sie, Ihr Team und andere Patienten lässt sich durch Schutzvorkehrungen beherrschen. Auch das Argument, Ihre Praxis könnte wirtschaftliche Nachteile haben, wenn andere Patienten aus Angst wegbleiben, zählt nicht.“
In diesem Zusammenhang sei auch die Frage nach Infektionskrankheiten wie HIV im Anamnesebogen problematisch, so Rechtsanwalt Hösl: „Das sind hochirrationale, archaische Denkmuster bei Ärztinnen und Ärzten.“ Schließlich sei das Verschweigen von HIV niemals ursächlich für eine Infektion, sondern mangelnde Befolgung von Standardschutzmaßnahmen bei der Behandlung oder ein Unfall trotz Befolgung der Maßnahmen.
„Das hat beides nichts damit zu tun, ob die HIV-Infektion bekannt ist oder nicht“, sagt Jacob Hösl. Die Frage nach Infektionskrankheiten wie HIV produziere nur eine Scheinsicherheit, von der man realistischerweise nicht ausgehen könne, so Hösl. Schließlich wüssten einige HIV-positive Menschen nicht von ihrer Infektion, während andere – eben aus Angst vor Diskriminierung – diese verschwiegen.
Regelmäßig Betroffene bei Antidiskriminierungsstelle des Bundes
Auch bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) melden sich regelmäßig Betroffene, die wegen HIV bei Arzt- oder Zahnarztbesuchen keine üblichen Termine bekommen, sondern nur in Randzeiten. „Besonders häufig werden Benachteiligungen gemeldet, bei denen es zur Verweigerung einer Behandlung kommt und somit der Zugang zur Gesundheitsversorgung beschränkt wird“, schreibt ein Sprecher der Stelle auf Anfrage.
Die Hürden, um gegen Diskriminierungen zu klagen, seien für Betroffene sehr hoch. „Sie tragen das Prozessrisiko im Fall einer Klage allein – und damit das Risiko, auf teuren Anwaltskosten sitzen zu bleiben“, so der Sprecher weiter.
Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes und ein breites Bündnis aus der Zivilgesellschaft setzen sich daher für eine AGG-Reform ein. Dazu gehört auch die Forderung nach dem Verbandsklagerecht, mit dem beispielsweise die Deutsche Aidshilfe als Dachverband zukünftig Musterklagen für Betroffene durchfechten könnte. Außerdem sind laut ADS unabhängige Schlichtungsstellen bei Landesärztekammern sowie verpflichtende Fortbildungen von medizinischem Personal bezüglich HIV nötig.
Wichtig sind: Gerechtigkeit und Prävention
„Ich bin nicht nur von meiner Zahnärztin als Person entsetzt, sondern sie ist auch medizinisch nicht auf dem neuesten Stand“, sagt E. Todaro über seine Zahnärztin. „Solche Ärztinnen und Ärzte brauchen Schulungen. Schließlich ist sie eine junge Zahnmedizinerin. Zudem ist sie in der Berufsschule aktiv.“
E. Todaro war vor einigen Jahren berufsbedingt in einem Burn-out, war depressiv, wurde therapiert und schließlich stabilisiert. „Das Ereignis in der Zahnarztpraxis hat mich extrem zurückgeworfen. Ich habe mich wirklich schlimm behandelt gefühlt“, sagt er. Bis heute habe er keine Entschuldigung von der Ärztin bekommen. Damit rechnet Todaro auch nicht: „Die denkt, das ist ihr gutes Recht. Aber das ist es nicht.“
Benedict Wermter
(Anmerkung der Redaktion: In Texten der Deutschen Aidshilfe wird gendersensibel mit dem Gendersternchen formuliert, wir haben den Beitag von Benedict Wermter dementsprechend bearbeitet.)
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