Unwissenheit und Vorbehalte gegenüber Menschen mit HIV in der Zahnmedizin
Zahnmediziner*in mit HIV – geht das? Das Risiko einer HIV-Übertragung liegt dabei nahe Null, dennoch gibt es Unsicherheit und Diskriminierung.
„Ich glaube, das muss quasi an der Praxis dran stehen, wenn man HIV-positiv ist. In medizinischen Berufen ist es ohnehin schwierig, wenn man HIV hat, weil die Gefahr groß ist, andere zu infizieren“, sagt ein junger Zahnarzt aus Ostdeutschland. Der allerdings auch gleich nachschiebt, dass er nicht weiß, ob das stimmt, was er da sagt.
Ich glaube, das muss quasi an der Praxis stehen, wenn man HIV-positiv ist.
Spoiler: Es stimmt nicht. Dennoch ist erschreckend, dass es diesen Mythos unter Zahnmediziner*innen überhaupt gibt – auch mit Blick auf das Studium: „Auch da muss man preisgeben, wenn man HIV hat, meine ich“, so der Zahnarzt.
Wie weit verbreitet dieser Mythos unter Zahnmediziner*innen ist, lässt sich schwer sagen. Klar aber ist, dass er sich negativ auf das Leben von HIV-positiven Studierenden der Zahnmedizin und von Zahnärzt*innen auswirken kann.
Ein aktuelles Beispiel ist der Fall eines Studenten der Zahnmedizin, der aufgrund seiner HIV-Infektion vom praktischen Studium ausgeschlossen wurde, weil er angeblich als behandelnde Person oder als „Übungsperson“ für Mitstudierende eine Gefahr darstelle.
Unterschiedlicher Umgang der medizinischen Fakultäten mit HIV
Die Deutsche Aidshilfe hat deshalb Fachschaften und Dekanate der Medizin und Zahnmedizin gefragt, wie sie mit Studierenden mit HIV umgehen: ob sie den HIV-Status abfragen und falls ja, warum und mit welchen Konsequenzen.
Das Ergebnis: Einige Fakultäten fragen offenbar nicht nach, andere überlassen es ihren Studierenden, ihren Status anzugeben oder sich – im Sinne der betrieblichen Vorsorge – zum Beispiel auf Hepatitis C oder auch HIV testen zu lassen. Einige wenige Universitäten allerdings verpflichten angehende Human- und Zahnmedizinier*innen, ihren HIV-Status anzugeben oder sogar einen HIV-Test zu machen.
Eine rechtliche Grundlage dafür sieht Kerstin Mörsch von der Kontaktstelle HIV-bezogene Diskriminierung der Deutschen Aidshilfe nicht. „Im Arbeitskontext darf nur bei triftigen Gründen nach HIV gefragt werden, nämlich dann, wenn dies für die Tätigkeit eine Rolle spielt. Das ist in den allermeisten Fällen nicht so“, sagt Mörsch.
Nur für „besonders verletzungsträchtige Tätigkeiten“, zum Beispiel Operationen mit eingeschränktem Sichtfeld, gelte, dass bei Operierenden mit HIV die Virenmenge im Blut „unter der Nachweisgrenze“ der gängigen Testverfahren liegen müsse und sie doppelte Handschuhe tragen müssten. „Unter der Nachweisgrenze“ aber sind so gut wie alle Menschen mit HIV, die regelmäßig ihre HIV-Medikamente nehmen – in ihrem ureigenen Interesse. Denn so haben sie beste Chancen auf ein weitgehend beschwerdefreies und langes Leben.
Keine verpflichtende HIV-Untersuchung in der arbeitsmedizinischen Vorsorge
Eine verpflichtende Untersuchung auf HIV ist in der arbeitsmedizinischen Vorsorgeverordnung ausdrücklich nicht vorgesehen (anders als bei den wesentlich leichter übertragbaren Erregern von Hepatitis B oder C). Jede verpflichtende Abfrage des HIV-Status oder eine Blutuntersuchung auf HIV stelle somit einen „aktiven Verstoß gegen arbeitsmedizinische Vorschriften dar“, sagt Dr. Hubertus von Schwarzkopf, Mitglied im Ausschuss für Arbeitsmedizin beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales.
Verpflichtende Abfragen des HIV-Status oder verpflichtende HIV-Tests könne man auch nicht mit dem Infektionsschutzgesetz begründen, sagt Kerstin Mörsch. Dort verpflichtet ein Paragraf unter anderem Leiter*innen von Krankenhäusern und Praxen, die „nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft erforderlichen Maßnahmen“ zu treffen, um „die Weiterverbreitung von Krankheitserregern zu vermeiden“. Dies sei bei HIV durch die im medizinischen Bereich geltenden Maßnahmen zum sicheren Arbeiten und zur Basishygiene gewährleistet.
Verpflichtende HIV-Tests bieten nur eine Scheinsicherheit
„Wer HIV-Positive mit Abfragen und Auflagen kontrollieren will, stellt nur eine Scheinsicherheit her“, sagt Rechtsanwalt Jacob Hösl. Er vertritt den wegen seiner HIV-Infektion vom praktischen Studium ausgeschlossenen Zahnmedizin-Studenten der Universität Marburg. Außerdem hatte er schon mehrere Mandant*innen, die wegen ihres HIV-Status von Zahnärzt*innen als Patient*innen abgelehnt wurden und weite Wege auf sich nehmen müssen, um behandelt zu werden.
Da wird der Teufel in Gestalt eines Menschen mit HIV an die Wand gemalt, damit man ihn vermeintlich bannen kann.
Hösl weiß: HIV-bezogene Diskriminierung im Alltag gibt es noch immer, gerade im Gesundheitswesen – gegenüber Patient*innen wie auch gegenüber Menschen „auf der anderen Seite“, also Beschäftigten im medizinischen Bereich.
Der Rechtsanwalt mit HIV-Schwerpunkt nennt ein Beispiel: „Nehmen Sie an, ein Student der Zahnmedizin hat einen negativen Test bei der betriebsärztlichen Vorsorge und infiziert sich dann mitten im Semester mit HIV, ohne es zu wissen. Dann geht die Virenmenge in seinem Blut in die Millionen – und in einer Situation, in der es zu einer HIV-Übertragung kommen könnte, wäre das Risiko hoch.“ Man könne also die angestrebte Sicherheit gar nicht durch verpflichtende Tests herstellen – wohl aber durch sicheres Arbeiten. „Da wird der Teufel in Gestalt eines Menschen mit HIV an die Wand gemalt, damit man ihn vermeintlich bannen kann“, sagt der Rechtsanwalt.
Zahnmedizin-Experte: Ängste sind verständlich, aber unbegründet
„Da bei den Zahnis als operatives Fach Nadeln, scharfes Werkzeug und Blut zum Alltag gehören, muss man verstehen, dass sie alarmiert sein können“, sagt Prof. Dr. Rainer Jordan, Wissenschaftlicher Direktor des Instituts der Deutschen Zahnärzte (IDZ), einer Forschungseinrichtung der Bundeszahnärztekammer und der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung. „Aber wir leben jetzt seit 40 Jahren mit HIV. Und die Zahnmediziner weisen die niedrigsten Infektionszahlen von allen Berufen auf, haben aber die größte Abneigung.“ Das sei nicht plausibel.
Der internationale wissenschaftliche Tenor gibt ihm Recht. John Hardie, der sich über 30 Jahre wissenschaftlich mit dem Thema Infektionsvermeidung beschäftigt hat, formulierte 2018 folgendes Fazit: „Bei der Ausübung ihres Berufs besteht für Zahnmediziner*innen und ihre Mitarbeiter*innen kein Risiko, sich bei infizierten Patient*innen mit HIV anzustecken“.
Umgekehrt – also mit Blick auf das Risiko für Patient*innen von Zahnmediziner*innen mit HIV – stellt sich die Frage: Wie sollte es überhaupt zu einer HIV-Übertragung von einer behandelnden Person auf Patientinnen kommen? Mit dem Skalpell ausrutschen, sich selbst in den Finger schneiden? Und dann mehrere Milliliter Blut in den Mund der behandelnden Person übertragen?
Bei der Ausübung ihres Berufs besteht für Zahnmedizinerinnen und ihre Mitarbeiterinnen kein Risiko, sich bei infizierten Patient*innen mit HIV anzustecken
Das sei nahezu ausgeschlossen, sagt Jordan. Die Realität gibt ihm Recht: Seit den 1990er-Jahren gab es weltweit nur vier beschriebene Übertragungen von HIV-positivem medizinischem Personal auf Patient*innen. Dabei ging es nur einmal um einen Zahnarzt, der 1990 sechs von ihm betreute Patient*innen mit HIV infizierte. Die Umstände der Übertragung – zum Beispiel Unfälle oder Absicht – konnten aber nie geklärt werden. Hinzu kommt, dass die Übertragungen 1990 passierten, als es noch keine wirksamen Kombinationstherapien gegen HIV gab, welche die Virenmenge im Blut so weit senken, dass nur ein minimales, theoretisches Übertragungsrisiko bleibt.
Darüber hinaus gibt es seit vielen Jahren die sogenannte HIV-Post-Expositions-Prophylaxe, kurz PEP, um HIV-Infektionen nach einem (wahrscheinlichen) Kontakt mit HIV, zum Beispiel bei einer Verletzung mit einem Instrument mit einer ausreichend großen Menge HIV-haltigen Blutes daran, zu vermeiden. Bei einer PEP werden über einen Zeitraum von vier Wochen HIV-Medikamente eingenommen. Sie verhindern, dass sich HIV im Körper festsetzt. Wird eine PEP rechtzeitig begonnen, das heißt möglichst innerhalb von 48 Stunden, geht das Risiko einer Infektion gegen Null.
Allgemeine Maßnahmen der Hygiene reichen aus
„Eine Infektionsgefahr besteht also – wenn überhaupt – nur für denjenigen, der behandelt wird, und für niemanden sonst“, sagt Jordan. Hier Kommiliton*innen vermeintlich vor HIV schützen zu wollen, zeuge von einem mittelalterlichen Informationsstand. Zahnmediziner*innen seien im Bereich Infektiologie offensichtlich schlecht ausgebildet.
Auch die Bundeszahnärztekammer (BZÄK) und die Deutsche Aidshilfe stellen in der gemeinsam herausgegebenen Broschüre „Keine Angst vor HIV, HBV und HCV“ klar: Bei Einhaltung der üblichen Hygiene- und Arbeitsschutzmaßnahmen besteht keine Infektionsgefahr, weder für das medizinische Team noch für Patient*innen. Unnötig sei deswegen, Patient*innen nach ihrem HIV-Status zu fragen, die Behandlung ans Ende der Sprechstunde zu verlegen oder sie gar zu verweigern.
Positiv umgehen mit HIV-Positiven
„Es gibt immer ein Restrisiko“, sagt Rainer Jordan vom IDZ. Das könne man nicht eliminieren, aber minimieren – „so wie beim Anschnallgurt im Auto“.
Bei Studierenden nach HIV zu fragen, hält er für übertrieben. „Die Spirale kann man bis zum Ultimum drehen. Dann müsste man eben auch monatlich nach Hepatitis und allen anderen Viren fragen.“
Ein positiver, auf den wissenschaftlichen Fakten basierender Umgang mit Infektionsrisiken sieht anders aus:
Positiv ist, wenn Betriebsärzt*innen Studierenden allenfalls auf freiwilliger Basis Tests auf HIV anbieten – und sie im Falle einer HIV-Diagnose keinesfalls „sanktionieren“, sondern sie dabei unterstützen, die mit der Infektion verbundenen Herausforderungen möglichst gut zu bewältigen – im Studium wie im Beruf.