Schwanger und HIV-positiv - Ein Erfahrungsbericht
Ihre HIV-Diagnose traf Emilia* völlig unvorbereitet mitten in der Schwangerschaft und versetzte die Berlinerin in Angst um sich und ihr Kind. Wie sie diese Situation erlebt und sich aus dieser Schockstarre befreit hat, erzählt sie im Interview.
Wie hast du von deiner HIV-Infektion erfahren?
Ich war in der 9. Schwangerschaftswoche, als mir meine Frauenärztin eröffnete, dass ich positiv auf HIV getestet wurde. Die Diagnose traf mich völlig unvorbereitet. Ich musste erstmal verdauen, dass ich ungeplant schwanger war. Und dann auch noch das. Ich erinnere mich noch gut an das Unbehagen meiner Ärztin, als sie es mir sagen musste.
Wie hast du auf diese Mitteilung reagiert?
Meine ganze Welt blieb stehen. Ich sah alles verschwommen und mir schossen unendlich viele Fragen durch den Kopf, aber die allerwichtigsten waren: Was wird aus meinem Kind? Wird es sich auch infizieren? Wie soll ich ein Kind großziehen, wenn ich sowieso nur noch ein paar Jahre zu leben habe? Ich würde mein Kind niemals aufwachsen sehen! Das einzig Gute war, dass ich es dem Vater meines Kindes nicht sagen musste, weil er bei Eröffnung meiner Diagnose anwesend war.
Wie schnell wurde die HIV-Behandlung in Angriff genommen?
Meine Ärztin überwies mich noch am selben Tag in die Infektionsambulanz des Virchow-Krankenhauses. Die Stunden bis zum Termin vergingen wie in Zeitlupe. Bis dahin konnte ich nicht weinen. Es war alles nicht real, nur ein böser Traum. Als wir schließlich dort ankamen, flossen die Tränen einfach so. Ich konnte nicht mehr aufhören zu weinen. Meine Gefühlswelt stand völlig auf dem Kopf. Es war eine Mischung aus Schock, Angst, Verlust, Unwissen und Wut. Ich war wütend auf mich selbst. Wie konnte das nur passieren? Was habe ich in meinem Leben falsch gemacht, dass ich es verdient habe, HIV-positiv zu sein? Darauf gab es leider keine Antwort.
Wie hast du dann das erste Beratungsgespräch in der HIV-Ambulanz erlebt?
Ich wurde dort sehr herzlich empfangen und getröstet. Man versuchte, mir erst einmal die Angst zu nehmen, indem man mich aufklärte. Ich dachte, ich höre nicht richtig, als ich erfuhr, dass ich mein Kind ganz normal zur Welt bringen konnte, ohne dass es sich ansteckt. Noch so eine Sache, die ich als absolut surreal empfand. Wie soll das funktionieren? Ich fragte, wie es mit dem Stillen aussieht. Stillen wurde mir nicht empfohlen, das Risiko sei viel zu hoch. Das war dann der dritte Faustschlag. Mein Wunsch, zu stillen, wurde dadurch nur noch größer. Was man nicht haben kann, will man eben umso mehr. Mir wurde Blut abgenommen, damit man die Viruslast bestimmen konnte. Ich hatte so gute Werte, dass ich erst ab der 28. Schwangerschaftswoche Medikamente nehmen musste, um die Viruslast gegen null zu bringen. Regelmäßig Medikamente nehmen zu müssen, war mir völlig fremd, aber ich nahm sie immer ein. Schließlich ging es nicht nur um mich, sondern auch um mein Ungeborenes. Ich wollte ihm das Schicksal ersparen, damit leben zu müssen.
Innerhalb weniger Stunden wurde dein Leben und auch deine Vorstellung des Mutterseins auf den Kopf gestellt. Wie bist du damit umgegangen?
Die erste Nacht nach der Diagnose war schlimm. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, dachte ich wirklich, es wäre nur ein Traum. Aber das war es nicht. Ich weinte und wusste nicht, wie ich mir helfen sollte. Ich wollte mir unbedingt Hilfe holen, weil ich wusste, dass ich sonst etwas Dummes anstellen würde. Ich rief in der Berliner Aidshilfe an und bekam gleich für den nächsten Tag einen Termin. Es fühlte sich so unendlich weit an. Als ich dann schließlich dort war, wurde mir bestätigt, dass das alles wahr ist, was man mir in der Krankenhaus-Ambulanz erklärt hatte. Ich wollte dann wissen, ob es denn auch noch weitere positive Mütter gibt, die ihre Diagnose erst in der Schwangerschaft erfahren haben.
Was hast du dir vom Kontakt mit anderen HIV-positiven Müttern erhofft?
Ich wollte mein Leid teilen und wissen, wie es anderen in dieser ähnlichen Situation erging. Mit dem Einverständnis einer Mutter, die ebenfalls positiv war, bekam ich von der Berliner Aidshilfe ihre Telefonnummer. Das erste Gespräch mit dieser Mutter beruhigte mich etwas. Aber nur etwas. Ich musste sehen und begreifen, dass das alles stimmt, was medizinisch heute möglich ist. Real fühlte es sich immer noch nicht an. Kurze Zeit später entstand eine Selbsthilfegruppe für Mütter und Frauen mit HIV. Dadurch lernte ich noch weitere Frauen kennen. Sie waren ja absolut normal! Ich fühlte mich lange Zeit nicht normal. Ich war anders, so fühlte es sich für mich zumindest an.
Die HIV-Diagnose hatte dich völlig überrascht. Das heißt, du konntest dir die Infektion gar nicht erklären?
Mich hat natürlich die Frage beschäftigt: Von wem habe ich das eigentlich? Ich war sehr lange auf der Suche und konnte es eingrenzen, da ich ca. ein Jahr vor der Schwangerschaft einen negativen Test hatte.
Der Vater meines Kindes ist negativ getestet worden, also konnte es nicht von ihm sein. Diese Frage beschäftigte mich über die ganze Schwangerschaft hinweg. Es war zum Zerreißen. Warum habe ich nicht besser aufgepasst?
Ich war bis zur Geburt nur traurig, depressiv und dachte sehr oft daran, wie ich mich schnell und schmerzlos umbringen kann. Aber ich musste auch immer an mein Kind denken. Ich würde es genauso umbringen. Das wollte ich nicht. Ich wollte auch schon vor der Diagnose das Kind behalten und jetzt erst recht, weil es mich irgendwie am Leben hielt.
Wie hat sich das auf deine Beziehung mit dem Vater deines Kindes ausgewirkt?
Der Vater meines Kindes konnte mit meiner Diagnose nicht umgehen. Er hat mich vor seiner gesamten Familie und vor seinen Freunden zwangsgeoutet. Ich verstehe heute, dass es ihn genauso beschäftigt hat, aber ich konnte es nicht akzeptieren, dass er etwas so Intimes über mich jedem preisgab.
Konntest du dir von deiner eigenen Familie mehr Unterstützung erhoffen?
In meiner Familie weiß nur meine Schwester von meiner Diagnose. Allen anderen möchte ich es nicht erzählen, weil sie sehr konservativ sind. Meine Schwester litt sehr lange mit mir. Sie gab sich die Schuld, dass sie die letzten Jahre nicht mehr für mich da gewesen ist. Aber jetzt weiß sie, dass es nicht daran lag. Ich bin ein eigener Mensch und trage die Verantwortung, nicht sie.
Wie ist deine Frauenärztin mit deiner HIV-Diagnose umgegangen?
Ich hatte einmal monatlich einen Termin bei meiner Frauenärztin wie auch bei der HIV-Ambulanz im Krankenhaus. Es wurde so eingerichtet, dass diese beiden Termine im Zwei-Wochen-Rhythmus stattfanden. Ich war sehr froh, dass mich meine Frauenärztin weiter behandelte. Sie war in keiner Weise anders zu mir. Dennoch war sie, genauso wie ich, absolut unwissend, was HIV in der Schwangerschaft anging. Aber inzwischen ist auch sie schlauer geworden. Sie schrieb damals in meinen Mutterpass, dass ich HIV-positiv bin. Ihre Schrift war so unleserlich, dass ich es zunächst gar nicht entziffern konnte. Erst später ging mir ein Licht auf, aber da war mein Kind bereits geboren. Meine Schwerpunktärztin suchte ich mir dann selbst im Internet heraus, als ich eine Verordnung für eine Psychotherapie benötigte.
Was hat dich zu diesem Schritt bewogen?
Die Suizidgedanken wollten einfach nicht nachlassen. Die Psychotherapie half mir sehr und meine Therapeutin verurteilte mich überhaupt nicht. Lange Zeit hatte ich Angst andere Menschen zu berühren, weil ich mich vor mir selbst ekelte. Umso heftiger empfand ich es, dass man mich trotzdem umarmte. Das war Balsam für die Seele. Einige Freunde habe ich aufgrund der Diagnose verloren. Aber dann waren es nicht die richtigen. Die, die geblieben sind, waren immer an meiner Seite, wenn ich einen Tiefpunkt hatte, und solche kamen während der Schwangerschaft nicht gerade selten vor.
Wie hast du die Geburt erlebt? Konnten die Ärzt_innen auf der Entbindungsstation mit deinem HIV-Status umgehen?
Ich bekam meinen Sohn im Virchow-Krankenhaus, wo ich ja auch zur HIV-Behandlung war, und dort kannte man sich aus. Ich wollte nicht woanders entbinden und damit das Risiko eingehen, diskriminiert zu werden oder mein Kind per Kaiserschnitt zu kriegen, weil man dort keine Ahnung hat. Meine Hebamme wurde von mir gleich am Anfang über meine Diagnose informiert. Auch sie wusste wenig darüber, aber war offen für dieses Thema. Sie war wirklich wundervoll und sehr erfahren.
Hast du den Kinderarzt deines Sohnes über deine HIV-Infektion informiert?
Der Kinderarzt kennt meine Diagnose. Es war nie ein großes Thema, es wurde einfach nur zur Kenntnis genommen. Sie fragten nur zwischendurch nach, wie die Blutergebnisse meines Kindes sind. Wir wurden selbstverständlich nach der Geburt von der Kinderärztin aus der immunologischen Abteilung im Virchow-Krankenhaus weiter betreut.
Ist es dir schwergefallen, dein Kind nicht stillen zu dürfen?
Ich bekam für die ersten sechs Monate Säuglingsnahrung gestellt. Das tröstete mich trotzdem nicht darüber hinweg, dass ich nicht stillen konnte. Immer diese Fragen von anderen Frauen und aus der Familie, warum ich nicht stille! Am liebsten hätte ich gesagt, dass es denen am Arsch vorbeigehen kann. Aber den Mut hatte ich nicht. Man flüchtete sich in Ausreden. Irgendwann hörte die Fragerei auf.
Wie sieht dein Leben mit der Infektion heute aus?
Ich kann mit meiner Diagnose inzwischen gut umgehen. Die Medikamente nehme ich automatisch ein, ohne darüber nachzudenken, wofür sie eigentlich sind. Ich kann wieder Freude und Glück empfinden, lachen und auch Sex haben. Wenn ich heute einen Mann kennenlerne, dann erzähle ich recht früh von meiner Diagnose, wenn ich das Gefühl habe, dass weitere Treffen stattfinden. Nur einer konnte nicht damit umgehen. Alle anderen haben sehr positiv darauf reagiert. Klingt sehr paradox, wenn ich positiv sage.
Mit dem Vater meines Kindes bin ich schon eine ganze Weile nicht mehr zusammen. Mein Kind ist mittlerweile vier Jahre alt, ich bin alleinerziehend und voll berufstätig. HIV hat keinen Stellenwert mehr in meinem Leben. Es ist da, aber nicht mehr so präsent, dass es mich weiter innerlich zerstören kann. Mein Kind ist gesund, das ist die Hauptsache. Heute plagen mich die alltäglichen Probleme einer Mutter und genauso das größte Glück, Mutter zu sein. Zum Glück erfuhr ich von meiner Diagnose in der Schwangerschaft. Ich will mir nicht ausmalen, was mit mir passiert wäre, wäre ich zu diesem Zeitpunkt nicht schwanger gewesen. Mich würde es heute wahrscheinlich nicht geben.
Was wünschst du dir für die Zukunft?
Ich wünsche mir, dass sich die Gesellschaft mehr mit dem Thema HIV beschäftigt. Ich kann mit meiner Diagnose nicht offen leben und das stört mich. Ich habe Angst vor Diskriminierung und Ausgrenzung. Am liebsten würde ich es laut rausschreien, einfach aus Prinzip. HIV wird von der Gesellschaft nicht wie z. B. Diabetes anerkannt, wobei man schon fast sagen kann, dass HIV besser behandelbar ist.
Jugendliche sollten viel mehr aufgeklärt werden und nicht nur einen zweistündigen Crashkurs in der Schule erhalten. Die Aufklärung sollte schon tiefgründiger sein. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Aufklärungsstunden in der Schule. Das ist ein Witz im Vergleich zu dem, was ich heute über HIV weiß.
Was möchtest du anderen Müttern mit auf den Weg geben, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, wie du vor vier Jahren?
Ich kann allen HIV-positiven Müttern raten, nicht aufzugeben. All die negativen Gedanken und Gefühle werden nachlassen. Es dauert seine Zeit, keine Frage. Ich brauchte ca. zwei Jahre, um einen normalen Umgang damit zu finden und es anzuerkennen. Heute lebt es als kleines Haustier in mir, das ich regelmäßig mit Medikamenten füttere, damit es entspannt bleibt.
Also nicht aufgeben, dafür kann das Leben viel zu schön sein – aber erst, wenn man die Infektion verarbeitet hat und damit umgehen kann. Es ist ein langer Prozess, aber keinesfalls unmöglich. Steckt den Kopf nicht in den Sand, holt euch Hilfe, wendet euch an die Aidshilfen und sucht Selbsthilfegruppen auf. Das hat mir sehr geholfen.
*Name geändert
Interview: Axel Schock